Ideenlabor

La Cuisine des Idées

Pipilotti Rist hat die künstlerische Direktion der Expo mit der Ambition übernommen, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Inhalt und Form müssen einem durchgehenden Gestaltungsprinzip folgen und vom Konzept bis zum Detail der Abfallcontainer erkennbar bleiben: «Schon um wenig zu erreichen», so die Überzeugung der Künstlerin, «muss man sehr viel fordern.»

Wie weit dies gelungen ist, ist umstritten. Einigen Beobachtern und Beteiligten erscheint die Demission von Pipilotti Rist im Dezember 1998 als Zeichen des Scheiterns dieser Gesamtintention. Sie argumentieren, die Planung habe im Konkreten – etwa bei den Transportmitteln oder im Bereich der Restaurants – das Prinzip des Künstlerischen nicht zugelassen und zugunsten des Funktionalen in den Hintergrund gedrängt. Auch innerhalb der kreativen Gruppe um Pipilotti Rist, die in der so genannten Cuisine arbeitet, ist der Eindruck stark, dass die breite Öffentlichkeit – Wirtschaft, Politik und auch die Medien – nicht bereit oder fähig sind, das mitzudenken, was im Kreis der Erfinder als kohärente Ausstellungsszenarien beziehungsweise -modelle entworfen wird. Von nachhaltiger Wirkung bleiben die einmaligen Modellvisionen der fünf Arteplages vom Frühling 1998. Wesentlich an deren Entstehung beteiligt sind Paulo Ugolini und die Architekten Marco Köppel und Carlos Martinez. Mit thematischen Spannungsbögen sind die visionären Modelle mit polarisierenden Begriffen aus dem Ideenlabor assoziiert worden. Pipilotti Rist hat die Visionen im Sommer 1998 an einer Medienkonferenz vorgestellt und mit dem Beresinalied öffentlich besungen.

Typischerweise entspannt sich die Kontroverse zwischen den Künstlern und den Realisten in der Expo anhand von zusätzlichen Architekturmodellen, die der Öffentlichkeit im Dezember 1998 präsentiert werden sollen. Die Realisten verhindern, dass Pipilotti Rist ihre opulenten, aber offensichtlich nicht zu realisierenden Modelle noch während des laufenden international ausgeschriebenen Architekturwettbewerbs der Öffentlichkeit vorstellt. Pipilotti Rist empfindet diese Entscheidung als Zurücksetzung, die nicht ohne Einfluss auf den Rücktrittsentscheid der populären Leiterin der Direction Artistique ist. Im Rückblick auf die reale Entwicklung der Expo und ihrer Architektur ist die Perspektive des Scheiterns des Ideenlabors von Pipilotti Rist aber bestenfalls ein Aspekt unter anderen. Fast noch bemerkenswerter scheint, dass in der Zeit des Modellstreits die wohl wichtigsten Elemente der Expo-Architektur entstehen und in einigen Fällen schon weiterentwickelt werden.

Jean Nouvel beispielsweise ist vom Kontakt mit der künstlerischen Equipe mehr als nur inspiriert. Von Pipilotti Rist und anderen kommen ihm gegenüber auch klare Ermutigungen und Aufforderungen, sich eben nicht an die Vorschläge der Ausschreibung zu halten, sondern im Wettbewerb an seinem architektonischen Gesamtkunstwerk, das er für Murten im Kopf hat, festzuhalten. Die dezentrale und dennoch thematisch und formal als Einheit konzipierte Arteplage von Murten mit dem Monolithen als architektonischem Bezugspunkt entspricht also voll der künstlerischen Grundidee von Pipilotti Rist. Jean Nouvel geht auf die Assoziationsraster und die thematischen Spannungsbögen ein, die aus der Cuisine stammen, und er entwickelt sie weiter. Die Thematik von Augenblick und Ewigkeit wird über die ganze Arteplage in einer Art bis in die Details durchdekliniert, die der facettenreichen und fantasievollen Assoziationswelt der Cuisine ausserordentlich nahe steht. Insofern ist trotz der personellen Wechsel auch eine bemerkenswerte Kontinuität in der Entwicklung der Expo erkennbar. Dass die Architektur zu einem gewissen Grad die das Ganze integrierende Funktion von der Kunst übernommen hat, ist eine interessante Fussnote zur Geschichte.

Dieser Typ von Kontinuität lässt sich auch an anderen Beispielen aufzeigen. So etwa bei der Wolke in Yverdon-les-Bains. Deren Esprit, der für viele Besucher geradezu idealtypisch den Geist der Expo zeigt, ist schon im Ideenlabor der ersten künstlerischen Leiterin erkennbar. Er wird zur Vision mit den Modellen vom Frühling 1998 und blitzt in den poetischen Texten des Assoziationsrasters der Arteplages wieder auf. Am Beispiel Yverdon-les-Bains: «Wie viele Ballaststoffe verdauen Sie so pro Tag? Haben Sie schon mal den Mann im Mond gesehen, Herr Nicollier? – Nein, dafür die Erde von aussen; in der Schwerelosigkeit. – Und ist die Schweiz eine Insel oder nicht? – Wenn Sie freie Sicht aufs Mittelmeer haben, ja; wenn Sie kein Meer sehen, würde ich sagen, die Schweiz sei ein Binnenland. Die weise alte Frau lächelt und schweigt. Ein Pfirsich leuchtet wollüstig am Baum.» (aus der Publikation Masterplan 1998 / Yverdon).

Doch auch in Bezug auf die Wolke waren die gestalterischen Vorgaben, von denen man in der Cuisine ausging, für eine Realisierung noch nicht geeignet. Es brauchte – mehrere – Architekten-, Szenografen- und Ingenieur-Teams, um den Gedanken aus ihrem Erbe herauszulösen, gerade um so viel wie möglich davon zu realisieren.

Das sind zwei der bemerkenswerten Paradoxe der Entwicklung der Expo und ihrer Architektur: Das Ideenlabor war für die Realisierung zugleich völlig ungeeignet und absolut unverzichtbar, seine Charaktere waren zugleich diametral entgegengesetzt und dennoch zutiefst verwandt.

Lukas Schmutz, 2003, aus der Publikation Architecture.Expo.02