Am 15. Mai 2001 fehlten uns nur noch 365 Tage bis zur Eröffnung der Schweizerischen Landesausstellung im Drei-Seen-Gebiet. Nelly Wenger, Präsidentin der Generaldirektion, gab damals auf der Website der Expo.02 einen persönlichen Überblick über den Sinn des Projekts. Sie erklärte, inwiefern die Expo.02 uns zusammenführen wird und inwiefern sich die Schweizerinnen und Schweizer darin finden, oder vielleicht sogar neu erfinden werden.
Ein Aufruf
In einem Jahr öffnet die Expo.02 die Tore ihrer fünf Arteplages, und schon heute lade ich Sie alle zu diesem Anlass ein, der für uns, für unser Land und für unsere Beziehungen zur Welt von grundlegender Bedeutung ist. Als Fest konzipiert, wird sie Gelegenheit bieten zu einer Grundsatzdebatte über die Schweiz von morgen.
Den Aufruf, den ich heute an Sie richte, werde ich vor Beginn der Expo.02 wiederholen: Ich werde bei bestimmten Gelegenheiten das Wort ergreifen, um meinen Eindruck der Vorbereitungsarbeiten zu schildern. Dieser erste Text im Internet leitet eine Serie ein, deren Beiträge sich auf das kommende Jahr verteilen bis zum Start der Landesausstellung.
Forderung nach Wahrheit
Die Expo.02 ist für mich eine einmalige Erfahrung in Bezug auf die Widersprüchlichkeit, die sie hervorruft. Während der Ausarbeitungs- und Vorbereitungsphase war die Forderung nach Transparenz unerlässlich. Doch die Kommunikation guter oder schlechter Neuigkeiten reichte nicht aus, um die Glaubwürdigkeit des Projekts zu bekräftigen. Ein Grund mehr für mich, einigen dieser Wahrheiten oder Gewissheiten unseres Projekts Ausdruck zu verleihen.
Eröffnung
Die Landesausstellung im dritten Jahrtausend öffnet am 15. Mai 2002 im Drei-Seen-Land ihre Tore. Sie wird stattfinden. Ich bin von ihrem Erfolg überzeugt, auch wenn noch nicht alles bis ins letzte Detail ausgearbeitet ist.
Geld
Meine Arbeit bei der Expo.02 war bis anhin stark von der Redimensionierung des Projekts und von finanziellen Fragen geprägt. Und auch heute noch werde ich mit der widersprüchlichen Meinung konfrontiert, dass wir genug von Geld und Organisation gesprochen hätten, dass wir aber weiter darüber sprechen müssten. Wir von der Expo wissen über Geldfragen Bescheid: Tag für Tag müssen wir um mehr Geld kämpfen. Einerseits haben wir es mit einem Land zu tun, das seinen wirtschaftlichen Erfolg und seinen Reichtum gerne zur Schau stellt, andererseits will dasselbe Land bis zum letzten Rappen wissen, wie viel es in einem nationalen Projekt verlieren könnte. Ich werde alles daran setzen, das von der Privatwirtschaft und von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellte Geld bestmöglich einzusetzen.
Entstehung und Identität des Projekts
Es würde zu weit führen, an dieser Stelle zu schildern, wie die Expo.01 zur Expo.02 wurde. Doch ein roter Faden bestimmt die meisten Entscheide. Oft war die Versuchung für die Projektleitung der Expo gross, sich in Anbetracht der geforderten Sparmassnahmen auf eine klassische Landesausstellung an einem Standort zu beschränken, wie dies in Zürich (1883 und 1939), in Genf (1896) und in Lausanne (1964) der Fall war. Ein solches Projekt hätte weniger Vorbereitungszeit benötigt, wäre weniger kostspielig und für die Schweiz realistischer gewesen. Doch allen Schwierigkeiten zum Trotz haben wir der Versuchung einer traditionellen Ausstellung widerstanden.
Warum diese Haltung, wenn sie doch schwieriger, teurer und waghalsiger ist? Wir waren von der verborgenen Kraft des Projekts, wie ich es nenne, beherrscht; als hätte dieses Konzept – so ungewiss und unzusammenhängend es war – einen schöpferischen Hauch in sich, der etwas Neues bewirken könnte. Hin und wieder stelle ich mir Folgendes vor: Eines Tages, wer weiss warum, wehte plötzlich ein neuer Wind im Drei-Seen-Land. Unsere Vorgängerinnen und Vorgänger der Expo.01 spürten diesen Wind und luden uns in ihr Traumschiff ein. Doch ihr Traum stiess sich zu heftig an den helvetischen Vorstellungen. Zurück an Land, an den Ufern, bemühten wir Nachkommen uns weiterhin, den schöpferischen Hauch einzufangen und ihn auf schweizerische Verhältnisse zu verdichten.
Die Aufgabe der Expo.02 besteht demnach nicht darin, einem zu grossen Traum die Flügel zu stutzen, sondern vielmehr, als Urheber eines neuen Projekts unsere Segel in einen neuen Wind zu setzen.
Dadurch, dass wir das Erbe angetreten haben und Neues wagen, und dadurch, dass ich in aller Gelassenheit bestätige, dass die Expo stattfinden wird, gehen wir ein grosses Risiko ein: Ein Risiko auf ein neuartiges Ereignis, das «ketzerisch und dissident» erscheint. Ich setze auf eine ketzerische Ausstellung, sofern sie Kreativität beinhaltet, und ich setze auf eine dissidente Ausstellung, sofern sie sich als zukunftsträchtig erweist.
Entstehen von Sinn
Die Tradition der Landesausstellungen nahm ihren Ursprung in Zürich, im Jahre 1883: Periodisch sollte ein Anlass zur Förderung des nationalen Zusammenhalts stattfinden. Den Anstoss gaben die Städte (Genf, Bern, Zürich und Lausanne). Sie entwarfen ein Ausstellungsprojekt. Der Bund ergriff die Gelegenheit, um eine patriotische Botschaft zu vermitteln. Die Expo.02 hat ihren Ursprung in einer verschiedene Städte und Kantone umfassenden Gegend, und sie vermittelt keine offizielle Botschaft. Der Bundesrat beauftragte die Expo-Direktion, eine Landesausstellung zu organisieren, ohne ihr eine identitätsstiftende Botschaft mitzugeben. Zum ersten Mal präsentiert sich der Bund mit vier in verschiedene Arteplages integrierten Ausstellungsprojekten.
Das Fehlen einer Botschaft wurde der Expo.02 wiederholt angelastet. So entstand der Ruf einer Ausstellung ohne Aussage, einer elitären und luxuriösen kulturellen Spielform.
Ich bin der Ansicht, dass das Fehlen einer Botschaft eine Chance für uns ist, denn wir müssen kein vorgegebenes Programm erfüllen. Der Erfindungsgeist kann sich entfalten, und dies liegt ganz im Trend unserer Zeit, in der man vorgegebene Weisungen und Strukturen in Frage stellt. Wer vertritt heute ernsthaft die These, dass ein kurzlebiges Ereignis zur kollektiven Identitätsfindung beisteuert? Diese Erkenntnis, die wir Tag für Tag bei der Projektverwirklichung bestätigt sehen, bietet unerwartet moderne Perspektiven.
Schaffen von Sinn
In der heutigen Gesellschaft schiessen die Mega-Events wie Pilze aus dem Boden. Gelegenheiten zu Gedenk- und anderen Feierlichkeiten gehen Hand in Hand mit den Erwartungen der Freizeitgesellschaft. Viele dieser Grossanlässe geben sich nicht mehr die Mühe, einen Sinn zu formulieren. Die Expo.02 hätte diesem Trend folgen können: Sie hätte sich den Mantel einer kulturellen Veranstaltung umlegen können, ohne sich die Frage nach dem Sinn stellen zu müssen. Entgegen diesem Trend habe ich persönlich stets nach dem tieferen Sinn der Expo.02 gesucht. Ich habe ihn nicht so gefunden, wie man einen versteckten Schatz findet, der darauf wartet, entdeckt zu werden. Der Sinn der Expo.02 ergibt sich aus den Vorbereitungsarbeiten. Die Expo hat konkrete Formen angenommen: Dies bezeugen die verschiedenen Ausstellungsprojekte, die Liste der Events, die zahlreichen Teams, die Architekten mit ihren Projekten, die praktische Organisation des Anlasses, die Arbeit der Direktion usw. Die Expo existiert lange vor dem 15. Mai 2002.
All diese Mosaiksteine werden zur Realisation der Expo.02 zusammengefügt. Sie bilden kein einheitliches Objekt, das der Expo automatisch einen Sinn geben würde. Denn der Sinn der Expo.02 – und dies ist die grosse Lehre, die ich aus meiner Arbeit ziehe – ist noch zu erschaffen. Es geht darum, die Gesamtheit der Veranstaltungen aufgrund ihrer Eigenschaften, nicht aufgrund eines vorgegebenen Programms, in Relation zueinander zu stellen.
Ich sehe die Expo. 02 nicht als einheitliches Objekt mit klar und präzis definierter Identität und deutlichen Umrissen. Eine Ansammlung von Projekten, Veranstaltungen, Konzepten, Wünschen, Funktionsweisen, Erwartungen und Werten kennzeichnet sie. Die Expo.02 ist unfassbar, unsichtbar, da ohne feste Grenzen, ohne eindeutige Existenz. Ein Mosaik aus schwer formbaren Steinen, die kein beruhigend harmonisches Bild bieten. Die Expo – und dies macht ihre Originalität aus – ist ein bunt schillerndes Gebilde, aus dem sich nach und nach eine konkrete Form und ein richtungsweisender Sinn herauskristallisieren. Das «Objekt Expo» wird sich uns in seiner definitiven Erscheinungsform erst nach der Eröffnung, im Ausstellungsalltag erschliessen.
Das Projekt Expo.02 hat mir gezeigt – und damit liegt es ganz im Trend der Zeit –, dass der Sinn zu erfinden und zu schaffen ist. Dass er nicht vorgefertigt irgendwo im Projekt verborgen bereitsteht. Und dass er wie eine flackernde Kerze eine gewisse Zeit braucht, um sich zu vollem Licht zu entfalten. Aus meinen praktischen Expo-Erfahrungen heraus versuche ich, dem Sinn des von uns vorbereiteten Anlasses eine Form zu geben.
Der Sinn des Handelns
In der Unordnung des Projekts, in der von Zufällen geprägten Entwicklung, haben wir den Sinn des Handelns erkannt. Wir wurden zu schnellen Entscheiden gezwungen und zur Einsicht, dass es nur ein Vorwärts gibt. Der Sinn des Handelns kann verschieden verstanden werden.
In unserem Land sind es nicht die Ideen oder Konzepte, die eine Handlung bestimmen. Der Erfolg und die Vorgehensweise der Schweiz beruhen auf Pragmatismus. Wir von der Expo haben eine pragmatische Haltung angenommen, weil die Ungewissheiten und Zufälle, die Ordnung und Entscheide gefährdeten und in Frage stellten, nur noch pragmatisch zu bewältigen waren. Wir gerieten in Situationen, aus denen wir uns, wie im Sport und in der Tragödie, nur noch durch Handeln hinausmanövrieren konnten, denn Handeln befreit, entwirrt und kann Lösungen bewirken.
Die Akteure der Expo hatten nicht das für diese Rolle erforderliche Profil. Im Übrigen kann sich niemand auf ähnliche Erfahrungen berufen. Die Erfordernis, kurzfristig handeln zu können, ist nicht Teil eines Stellenprofils, sondern hängt vielmehr von der persönlichen Veranlagung des Einzelnen ab. Heute stelle ich fest, dass dies das Projekt gerettet hat: Um spontan und vernetzt handeln zu können, mussten wir die Rollen und Funktionen ununterbrochen den neuen Gegebenheiten anpassen und eine grosse Flexibilität an den Tag legen.
Eine Expedition
Unsere Chance liegt in unserer Flexibilität und Risikobereitschaft. Die Expo.02 ist meines Erachtens eher eine Expedition als ein Unternehmen. Sie gleicht einer Reise über das weite Meer, mit dem Ziel, ferne Länder zu entdecken und zu erobern. Eine Expedition charakterisiert sich im Allgemeinen durch eine perfekte Organisation, denn nur so besteht Aussicht auf Erfolg; sie charakterisiert sich aber auch durch Abenteuerlust und Wagemut, da der Ausgang ungewiss ist. Expedition steht für Reisen, Erfindungsgeist, Schlauheit, Verwegenheit und oft auch Zähigkeit und Mut. Auf einer Expedition drohen verschiedenste Gefahren. Einige sind bekannt und überwindbar, andere sind unbekannt und treten dort auf, wo man sie am wenigsten erwartet.
Unsere Arbeit für die Expo geht – wie das Schiff auf dem Wasser – nicht geradlinig voran. Von der Reflexion bis zur konkreten Umsetzung beeinflusst sich alles gegenseitig. In jeder Projektphase müssen zahlreiche Vorgaben berücksichtigt werden. Zwischenfälle, unvorhergesehene Ereignisse sind nicht zu vermeiden. Im Gegenteil: Sie sind integrierender Bestandteil und bringen die Funktionsweise unserer Gesellschaft an den Tag. Die Expo.02 ist ein Abenteuer in einem Land, das wenig geneigt ist, sich auf Unbekanntes einzulassen.
Die Expo.02 ist kein Unternehmen, das Ergebnisse und Gewinne vorweisen muss, wohl aber eine riskante Reise hin zur Entdeckung neuer und andersartiger Wahrnehmungen der Schweiz und der Schweiz gegenüber der Welt.
Ein überraschendes Modell
In der scheinbaren Unordnung – Wahl der Personen, Bewältigung von Unvorhergesehenem, Unstabilität unserer Lage – hat sich in unserer internen Organisation wie von selbst ein Modell herauskristallisiert, das so alt ist wie die Schweiz: eine Kombination von gebündelten Führungsgremien – die Generaldirektion und das Leitungskomitee – und dezentralisierten Verwaltungen der Arteplages. Unser Projekt umfasst mehrere Standorte, die zu autonomen und gegensätzlichen, aber sich ergänzenden Welten werden können. Durch die Aufsplitterung in vier Standorte und den Verzicht auf Zentralisierung führt es uns ein typisch schweizerisches Modell vor Augen, das wir gut kennen, das aber etwas Neues ausdrücken möchte.
Dieses Modell zeigt sich uns nicht als eine alte, abgenutzte Formel, sondern als ein Versuchsraum, in dem mit Zufall und Fügung experimentiert wird. Als Leiterin einer gewagten, neuartigen und, so scheint mir, unter Kontrolle gehaltenen Expedition habe ich die Grundlagen der politischen und gesellschaftlichen Strukturen der Schweiz kennen gelernt. Aus der Notwendigkeit, Unvorhergesehenes zu meistern, wurde ein Vorgehen gewählt, das das schweizerische Modell mit einer Leitungsstruktur verbindet, die erlaubt, unerwartete Ereignisse zu bewältigen. Die Expo.02, die oft notfallmässig handeln musste, lässt uns über helvetische Effizienz und Solidarität nachdenken.
Fortschritte, Verspätungen, Wartereien, Unvorhergesehenes und Zufälle prägen unsere Arbeit. Doch nach der Phase der Unordnung und des Chaos waren wir von dieser Funktionsweise fasziniert. Wir haben unsere Erfahrungen gesammelt und das Vorgehen unserer Ansprüchen angepasst. Dieses Modell entstammt dem fruchtbaren Boden der Expo. Stetige Mobilität, die Fähigkeit, Risiko zu übernehmen und rasche Entscheide zu treffen, helfen uns, mit den Schwierigkeiten des Alltags fertig zu werden. Die Expo.02 ist von Ungewissheit durchwirkt. Wir werden sie nicht aus dem Weg räumen können, Aber wir wissen, wie wir fortan mit ihr umgehen müssen, und zwar nicht durch Theorien, sondern durch Handeln. Mag sein, dass das Projekt die Gelegenheit zum Aufbau eines neuen Know-hows bieten wird, woran wir in der Schweiz wenig gewöhnt sind: das Know-how des Umgangs mit Neuem und mit Risiken, ein Know-how, das in der Welt von heute immer wertvoller wird.
Ich sehe die Bedeutung des Handelns folgendermassen: Angesichts von Zweifeln, Ungewissheit, Schwierigkeiten und Blockierung muss man handeln – gemeinsam handeln. Dies ist, wenn man so will, eine philosophische Willensfrage. Doch um jegliche blinde Willkür zu vermeiden, scheint es mir unabdingbar, dass das Handeln ein Ziel anstrebt, ein Projekt, dessen Sinn von nun an zum Ausdruck gebracht werden kann.
Sinn des Projekts
Die Öffentlichkeit kennt das Projekt Expo.02 in seinen Grundzügen: Vier feste und eine mobile Arteplages, 37 Ausstellungen und zahlreiche Events. Die Expo.02 gibt sich mannigfaltig, abwechslungsreich, bunt. Doch häufig fragt man uns: Was ist denn der eigentliche Sinn dieses Anlasses? Geht es schlicht darum, einen in der Schweiz beispiellosen Grossanlass durchzuführen? Haben wir den Ehrgeiz, nach den grössten, strahlendsten und vielfältigsten Sternen zu greifen? Ist es unser oft zitiertes Ziel – den viel zu vernünftigen Schweizerinnen und Schweizern zu zeigen, wie sie sich von «Art-et-Plage» zum Träumen, zur kreativen Musse verleiten lassen können? Oder möchten wir ganz einfach unterhalten und amüsieren und den manchmal allzu ernsten Schweizerinnen und Schweizern einen interessanten Sommer gönnen?
Auf diese durchaus berechtigten Fragen werde ich Ihnen vorerst antworten, dass es schon mal gar nicht so schlecht wäre, in der Schweiz einen Grossanlass im Zeichen von Spiel, Traum und Gefühl durchzuführen. Eine imposante Zusammenkunft zu ermöglichen, die etwas von einem Festspiel und einem Volksfest hätte. Dass uns dies fehlt, ist unbestritten.
Doch das reicht nicht, und es wäre die grosse Energie und das viele Geld nicht wert, ginge es bei unserem Projekt nur darum, einen grossen Vergnügungspark zu verwirklichen. Für mich besteht der tiefere Sinn der Expo.02 darin, allen einzelnen und allen gemeinsam zu ermöglichen, die Welt in ihrer Zersplitterung und Fragmentierung zu erfahren und zu verstehen. Als nationale Ausstellung ist die Expo.02 bestrebt, die Schweiz in den Kontext unserer Zeit zu setzen.
Das Einstellen der Zeit
Das Zeitverständnis bildet das Herzstück des Projekts und ist das Ausgangsthema der alten Expo.01. Es ist allgegenwärtig in der Dialektik der Arteplage Murten-Morat mit dem Thema Augenblick und Ewigkeit. Auf Anregung des Architekten Jean Nouvel prägt diese Arteplage in der Stadt selbst verschiedene Wahrnehmungen von Zeit: die Zeit, die vergeht, die stillsteht, die uns entgleitet. In diesem Sinn haben der Architekt und sein Team im Gebiet von Murten Eingriffe geplant, die sich in die Umgebung einfügen: Holzhütten, Zelte, Container, einfache Unterstände aus Wellblech, aber auch Strukturen wie aufgeschüttete Kieskegel oder Anhäufungen roher Baumstämme. Auf dem schmalen Landstreifen am See thematisieren diese Eingriffe die Räumlichkeit der alten Stadt und deren landschaftliche Qualitäten. Wie ein Leuchtturm oder ein namenloses Schiff ragt der Monolith aus dem See, der drei Panoramen beherbergt, die wiederum in verschiedene Zeiten führen.
Die Thematik Zeit in der Stadt Murten bietet eine reiche Palette von Bedeutungen. Murten zeigt eine idyllische Seite der Schweiz, ein Postkartenbild. Die gehegte und gepflegte Altstadt ist ein Musterbeispiel eines Schweizer Städtchens, ein Ort des idealen Lebens, ein Schatzkästchen. Murten ist Nostalgie. Es hat die Fähigkeit, alles in die Vergangenheit zurückzuführen, in eine in der Vergangenheit stillstehende Zeitlichkeit. In Murten scheint dank Rennovation und Restauration das Alte wie neu, der Zahn der Zeit hinterlässt kaum Spuren; die Stadt bleibt intakt, gefeit gegen Abnutzung, Tod und Verfall. Murten ist zeitlos, die Zeiger der Uhr über dem Stadttor haben keinen Einfluss auf die Stadt, denn sie ist es, die von der Zeit spricht, von einer in einer unwandelbaren Vergangenheit versteinerten Zeit. Diese Zeit ist Garant für die helvetischen Werte und Bilder.
Jean Nouvels Projekt durchbricht das perfekte und kontrollierte Zeitsystem. Es durchbricht und entstellt es dadurch, dass es störende Elemente ins Herz der Stadt trägt; Elemente, die vom System abweichen, die lästig wirken. Diese Elemente bewirken eine Spannung zwischen einer Vergangenheit, die andauert, da sie in Form von historischen Monumenten, die bisweilen den Touristen vorbehalten sind, erhalten und geschützt wird, und einer belebten Gegenwart, die zerbrechlich und vergänglich ist, denn Jean Nouvels Bauten überdauern nur einen Sommer.
In der Arteplage Murten-Morat überlagern sich mehrere Wahrnehmungen: die innere Wahrnehmung (das Bewusstsein), die Zeit der Materie und die Zeit der Welt (medienbedingte Aktualität). Geschwindigkeit und Gemächlichkeit, Gegenwart und Vergangenheit, Ablauf und Dauer, Dichte und Dehnung, zyklische und lineare Zeit bewirken eine Überlagerung der Zeitlichkeiten unserer Existenz. Diese verschiedenen Zeitfragmente machen unser Leben spürbar.
In Murten wird die Zeit gestört: Sie wird nicht mehr nur ein in der Vergangenheit verewigter Moment sein, ein unwandelbarer Augenblick. Vielmehr wird sie durch die architektonischen Eingriffe der Arteplage neu in Bewegung gesetzt. Für Murten und das von der Stadt vermittelte Bild der Schweiz wird Zeit einerseits entstellt, das heisst über den Haufen geworfen und durcheinander gebracht. Andererseits wird sie neu eingestellt wie eine Uhr, die aufgezogen wird und neue Energie schöpft, um die Augenblicke in einem anderen Rhythmus zu messen.
Dezentralisierung
Warum findet die Expo.02 an mehreren Standorten statt? Auch wenn das Konzept der Arteplages das Modell Schweiz als ein Land ohne eigentliches Zentrum, sondern mit einer Vielzahl von regionalen Zentren darstellt, soll durch den Aspekt der Mehrfach-Standorte keine Swissminiature entstehen. Das Gegenteil ist der Fall: Zersprengung, Peripherie und Dezentralisierung sind angesagt. Die Expo.02 widersetzt sich der Ordnung, der Einheit, der Kohärenz. Jede Arteplage ist eine Attraktion für sich, ein Ort der Anziehung, ein Treffpunkt, eine Stätte für Veranstaltungen, für ein Nachtspektakel oder einen Kantonstag.
Die Arteplage Mobile du Jura symbolisiert diese fehlende Zentralisierung. Sie symbolisiert die Vernetzung der Expo. Die schwimmende Arteplage kommt und geht, taucht unerwartet auf, verschwindet auf den Flächen der drei Seen und schlängelt sich durch die Kanäle. Sie versinnbildlicht die Welt in Bewegung, doch in stetiger Suche nach Anschluss. Wie ein Agitator führt uns diese Arteplage durch das Abenteuer und entwirft ein Liniennetz des Expo.02-Raumes – eines bewegten Raumes, in dem die Verbindungen zwischen Ausdehnung und Ausrichtung sich kreuzen und gegenseitig bedingen.
Das Schiff fährt unter der Flagge Sinn und Bewegung. Diese Arteplage lädt zum Reisen, Abschweifen und Wegdriften. Die Expo.02 hat ein stabiles Schiff gebaut, das aber dem Strom der Zufälle ausgeliefert ist. Eine Reise zur Arteplage Mobile du Jura ist eine Reise nach aussen, weg vom Zentrum. Sie wird eine andere Sicht auf die Schweiz bieten. Die Arteplage Mobile du Jura wird eine grundlegende Betrachtung des Seins in der Welt, des Seins in der Schweiz ermöglichen.
Ungewohnte Blicke auf die Schweiz
Die Expo.02 spielt sich in einem Teil der Schweiz ab. In einer Städte, Seen, Ebenen und Berge umfassenden Region. Der einheitliche Standort – eine unumstössliche Regel für solche Anlässe – wird nicht respektiert: Weitung setzt sich durch, eine Zerstreuung der Standorte, die jedoch über ihre gemeinsame Verbindung zum Wasser, zu den Ufern, zur Stadt wieder zusammengeführt werden.
Wozu regt die Architektur der Arteplages an? Die Architektur der Expo.02 dient nicht der Verschönerung des malerischen Drei-Seen-Landes. Vielmehr soll sie die vorgefundene Landschaft und die kurzlebigen Bauten in ein Spannungsfeld setzen. So eröffnet sich dem Besucher ein neuer Raum, dessen er sich nach und nach bemächtigt, um ihn in sein Zeitgefüge einzugliedern. Die Architektur der Arteplages hebt die Landschaft hervor, ohne sie zusätzlich zu schmücken. Sie behauptet sich in ihrer kurzlebigen Künstlichkeit. Die Expo.02 hat sich von Anfang an der Vergänglichkeit verschrieben. Dieses Gebot hat eine Architektur der Widersprüche entstehen lassen, und dies ist eine Chance für unser Projekt. Die Arteplages sind mehr als Architektur; sie präsentieren sich vielmehr als konstruierte Ereignisse, als grosse, für die Expo.02 errichtete Anlagen, die ungewohnte Blicke auf die Schweiz ermöglichen.
Die Arteplage Neuchâtel verschiebt die Grenzen der Stadt auf das Wasser, indem sie eine in den See hinausragende Verbindung zwischen Festland und Wasser schafft – gewissermassen als weiterführende Entwicklung der Stadt, die sich im Laufe der Jahrhunderte von oben nach unten in Richtung See ausbreitete. Hier zeigt sich das Projekt anders. Das Stück besetzten Wassers ist nicht die Frucht einer Eroberung. Es ist vielmehr ein Fragment eines imaginären Landes, das am Ufer angelegt hat, um die Erde des Menschen zu besuchen. Dadurch wirft die Arteplage Neuchâtel mit ihren wie Schiefersteine geformten Dächern und den künstlichen Schilfhalmen die direkte und grundlegende Frage nach der Städteentwicklung auf.
Der Bau auf Pfählen weckt zudem ferne und verblasste Erinnerungen an die Pfahlbauten im Drei-Seen-Land. Permanent setzt der Mensch seine Umgebung in Szene, entweder gewollt oder weil er dazu gezwungen ist. Natur und Künstlichkeit sind keine Gegensätze in Neuchâtel; es geht vielmehr darum zu zeigen, wie sie sich in der heutigen Welt miteinander verbinden. Die Dialektik der Arteplage spiegelt das Bestreben, die Wirklichkeit und die Zukunft der Umwelt besser in den Griff zu bekommen. Vom Wasser her sieht die Besucherin, der Besucher die Stadt und die Entwicklung der Zivilisation aus einem anderen, aus einem exzentrischen und ungewohnten Blickwinkel.
Ausstellen
Welche Bedeutung hat der Begriff Ausstellung für die Expo.02? Eine Ausstellung ist eine visuelle Konstruktion, die Augen und Geist Nahrung bietet. Sie ist ein äusserst facettenreiches Medium und spricht eine universelle Sprache, die der Kommunikation, Kultur und Unterhaltung dient. Die Expo.02 möchte die Sinne wecken und Gefühl, Erfahrung, Sensibilität und Intelligenz ansprechen.
Folgendes lässt sich skizzieren: Im Unterschied zu den traditionellen Landesausstellungen, die auf künstliche Weise ein Hauptthema aufgriffen, präsentiert sich die Expo.02 als buntes Mosaik von Ausstellungen, die sich alle voneinander unterscheiden. Dieser Reichtum an Vorschlägen, die alle etwas aussagen möchten, scheint mir eine ganz besondere Eigenheit der Expo.02 zu sein.
Unser Projekt definiert sich nicht als eine gewissermassen erzwungene Collage von nebeneinander stehenden Ausstellungen. Aber gerade wegen seiner Zufälligkeit und Vielfältigkeit ermöglicht es eine neue Ausdrucksweise und eine neue Lesart der Gegenwart; eine Lesart, die der Arbeit eines Archäologen ähnelt: Anhand der zerbröckelten, in sich zusammengefallenen und vermischten Schichten auf seinem Gelände stellt er eine Verbindung zwischen den verschiedenen Epochen und Phasen der Geschichte einer Gegend her. Der Besucher wird aufgrund der Eindrücke, die er von diesem Anlass gewinnt, selber ein Gefüge bauen. Wir stellen ihm die Einzelteile zur Verfügung, die aufgrund von Fügungen der Zeit, Kreativität und materieller Möglichkeiten zusammengestellt wurden.
Die Expo erleben
Auf den Arteplages entfalten sich die Ausstellungen sowie die theatralischen, künstlerischen und musikalischen Events. Ohne den Begriff Expo zu missachten – und die Erinnerung vergangener Landesausstellungen wahrend –, wird die Ausstellung an eine grosse kulturelle Zusammenkunft erinnern. Mit ihrer Offenheit, ihrer Atmosphäre, ihrer Gastronomie, mit ihren zahlreichen Wegen, die von einer Arteplage zu anderen, von einer Architektur zur anderen, von einem Thema zum anderen, von einer Ausstellung zur anderen, von einem Event zum anderen führen, weist die Expo.02 auf unsere Modernität hin, offenbart und unterstreicht sie. Sie sagt ein paradoxes Ereignis an: eine durch und durch festliche Veranstaltung, deren Vollkommenheit aber absichtlich zersprengt, gewinkelt, geschichtet und vernetzt ist, wie die Zeit, in der wir leben und die Zivilisation, mit deren Aufbau wir beschäftigt sind. Irgendwo zwischen der Ordnung der früheren Landesausstellungen und der Unordnung einer zufälligen Konstruktion regt die Expo.02, im Einklang mit unserem Zeitalter, eine Idee an: Das Chaos der heutigen Welt kann eine vorübergehende Struktur finden, falls die Menschen sich die Freiheit nehmen, sie zu erbauen, sie zu denken und ihr einen Sinn zu geben.
Der Sinn und die Schweiz
Wenn ich an die Verbindungen zwischen der Expo und der Schweiz denke, sehe ich mögliche Einwände. Wie können wir von der Schweiz sprechen, wenn die Expo durch ihren Status, ihre Vorgehensweise und das Fehlen einer grundlegenden Botschaft keine unmittelbare Vision der Schweiz vorlegen kann? Ist der Name etwa das einzig Nationale an dieser Ausstellung? Ist sie etwa ein Ereignis, das man einfach nicht aus unserer Geschichte entfernen wollte? Toleriert man sie einfach aus Gleichgültigkeit? Wie können wir es wagen, ihren Sinn mit Begriffen wie Normbruch und Dezentralisierung zu formulieren und gleichzeitig von Heimat und Gemeinsamkeit zu sprechen? Denn, so wird man mir erwidern, es ist die Einheit, die Gesamtheit, die sichtbaren Machtzentren und die Zweckbestimmtheit, die ein Heimatland ausmachen.
Wie kann man bei der Expo.02 von der Schweiz reden, wenn man sie vor einen zerrissenen, zersplitterten Hintergrund stellt? Um darauf einzugehen, berufe ich mich auf meine Erfahrung mit dem Projekt.
Eine Landesausstellung heute: eine Erfahrung
Es scheint mir angebracht, die Aufmerksamkeit auf die folgende Widersinnigkeit zu lenken: Die Expo.02 ist in der Tat national; aber es besteht nicht die Absicht, eine Darstellung der Schweiz wiederzugeben. Die früheren Landesausstellungen hatten zum ausdrücklichen Ziel – ganz im Sinne der Zeit – eine bestimmte Idee von der Schweiz umzusetzen, sie zu inszenieren und das Ganze im Verlauf eines vorgegebenen Programms zu erläutern. Heute arbeitet die Expo.02, aus dem Inneren ihrer Organisation heraus, wie ein Kaleidoskop. Sie gibt die komplexe Schweiz von heute wieder, die nicht als wohlgeordnete Synthese verstanden sein will, sondern als eine Reihe von Kontinuität und Unterbrechung, von Bräuchen und unverhofften neuen Phänomenen. Diese Projektion fordert, von der angestammten Rolle der Schweiz Abschied zu nehmen. Die Schweiz, die hier ans Tageslicht tritt, bezieht sich nicht auf einen ein für allemal formulierten Gedanken, sondern auf ständig neu zu definierende Identitäten; auf eine Schweiz, die sich selbst in ihrer praktischen Methode der Ungewissheit erfährt, einer alltäglichen Ungewissheit, die auch die meine ist.
Auch wenn einige Veranstaltungen der Expo.02 unser Land reflektieren: Die Absicht unserer Ausstellung geht dahin, eine Vision und eine Methode gegenständlich zu machen, die es uns erlauben, unsere Zeit und die Zivilisation, die sich in ihr entwickelt, zu spüren. Die Expo soll ein Versuchs- und Experimentierraum sein, eine Art Erlebnisstätte des Zufälligen und der Macht, der Zersplitterung und der Vernetzung.
Der Entdeckungsgeist wird auch während der 159 Tage der Expo.02 dominieren. Die Veranstaltung wird dem Besucher erlauben, die in unserem Schaffensraum heraufbeschworene Zivilisation selbst zu konfrontieren, seine Übereinstimmung mit ihr zu finden, mit ihr zu spielen. Aus dieser Perspektive sieht die Problematik bereits anders aus. Es geht nicht mehr darum, welches Bild der Schweiz die Expo.02 vermittelt. Ich betone nochmals: Mit ihrer Methode, ihrer Umsetzung und ihrem Experimentieren regt die Expo.02 ein neues Bild der Schweiz an.
Betrachtung
Als Leiterin der Expo.02 werde ich täglich mit der Schweiz und ihrem Wesen konfrontiert. Welche Schweiz der Gegenwart habe ich entdeckt und erlebt, wie sehe ich sie in der Zukunft? Welcher Schweiz bin ich begegnet und welche habe ich selbst erfunden? Ich sehe drei Schweizen: die eine kühn und grosszügig, die zweite zurückgezogen und egozentrisch, die dritte gleichgültig und abweisend.
Die Expo.02 zeigt es deutlich: Es besteht in diesem Land die Fähigkeit zu Risiko und Wagemut, der Wille, sich ins kalte Wasser zu stürzen. Dies passt zu den Arteplages, die zwar am Ufer befestigt sind, aber von den Wasserstrudeln und Strömungen umtost werden. Überall, von der Wirtschaft bis zur Kultur, brodelt es in unserem Land.
Die Expo.02 ist das Produkt dieser Unruhe. Und gleichzeitig entdecke ich eine Schweiz, die Angst hat, die zagt, die zählt und nachzählt. Das alles habe ich bei der Expo.02 als Realität erlebt, so wie ich die dritte Erscheinungsform der Schweiz erlebt habe, die, die sich selbst gegenüber gleichgültig scheint, sich selbst verleugnet, die keinen Wunsch mehr verspürt, sich mitzuteilen. Diese Haltung, die sich in den Vorwürfen an die Expo.02 niederschlägt, drückt tiefe Zweifel über die Schweizer Identität und über den Sinn unseres Schweizer-Daseins aus.
Angesichts dieser drei Schweizen frage ich mich:
- Sagt die Expo.02 etwas über die Egozentrik, den herrschenden Mangel an Wagemut und die Selbstzufriedenheit aus?
- Und: Kann die Expo.02 irgendwelche Versprechungen jenen gegenüber machen, denen das Schweizersein wenig bedeutet?
Zu diesen schwierigen Fragen möchte ich Folgendes sagen: Unsere Ausstellung will zuerst eine zeitgemässe Zivilisation darstellen und die Schweiz in der Welt, der sie angehört, befragen. Man kann die Ausdruckweise kritisieren, mit der sich die Expo.02 zu Ich und das Universum, zu Augenblick und Ewigkeit, zu Macht und Freiheit, zu Natur und Künstlichkeit oder zu Sinn und Bewegung ausdrückt. Aber die Leitthemen der Arteplages müssen jedem erlauben, sich von sich weg zu bewegen, sich aus sich heraus zu bewegen, sich gewissermassen zu entschweizern, um einen neuen Zugang zur Welt und zur Schweiz zu finden. Dann wird jeder die Widerstandsfähigkeit seines Schweizerseins gegen die neue Methode prüfen, die er durch die Reise, das sich Suchen und sich Bewegen in der Welt erlernt hat. So kann die Freiheit für sich in Anspruch nehmen, einen Blick auf eine andere Schweiz zu werfen; so begründen Differenzierung und Dezentralisierung eine neue Selbsterkennung.
Aufgrund meiner praktischen Arbeit wage ich zu behaupten, dass die Expo.02 mir bereits in dieser Vorbereitungsphase die Vorstellung einer anderen Schweiz ermöglicht. Ich schreite von aussen ins Innerste der Expo.02, und in meinem Geist formt sich die Schweiz auf zweierlei Weise: durch Sehen und Vorstellen.
Sehen
Die Expo.02 funktioniert wie ein optisches Gerät, das eine Welt voller Faltungen, Bruchstellen und versteckter Formen sehen und verstehen lässt. Das Erlernen dieses anderen Sehens hat dazu geführt, dass ich mich selbst anders sehe in diesem Land, so wie die Besucherinnen und Besucher die Schweiz nach der Expo.02 mit anderen Augen sehen werden.
Die Ausstellung ist also eine Darstellung einer erahnten Schweiz. Die Darstellung ist ein Ersatz, der den Platz des eigentlichen Objekts einnimmt. Sie beinhaltet ein Ersetzen. Die Expo.02 ist eine Darstellung in dem Sinn, dass sie eine eigene Vision des Landes vorlegt und dadurch andere Reaktionen hervorruft, andere Symbole erstellt und ein mögliches Anderes kreiert.
Vorstellen
Was wir an der Expo.02 als Funktionsweise, als Handlungsquelle und als Sinn des Projekts erleben, erlaubt, mögliche Wege für die Schweiz von morgen zu ebnen. Wir hätten an der Expo.02 eine globalisierte, wirtschaftlich geöffnete und eroberungslustige, eine technisch leistungsstarke Welt zelebrieren können; wir hätten auch eine ichbezogene, geschlossene, ihre ewige Helvetizität feiernde Schweiz zeichnen können. Oder wir hätten die Originalität eines beständigen Schweizer Pfades neu in Szene setzen und das Eigenleben unseres Landes aufzeichnen können. Wir widerstanden der Versuchung, weil uns das zweigeteilte Bild einer Schweiz, die von der Welt ausgeschlossen oder von ihr eingekreist ist, eine Täuschung zu sein scheint, unvereinbar mit der Art von Zivilisation, mit der die Expo.02 experimentieren will.
Wir haben uns auf eine Methode des Zufalls geeinigt, bei der die ungleichen Elemente einer Welt-Expo und einer Landesausstellung ineinander übergreifen, sich vermischen und überkreuzen. So können wir uns eine Schweiz von morgen vorstellen, die offener ist für Welterfahrungen, die ganz und gar in ihre Zeit hinein gehören kann.
Die Bedeutung der Expo
Die Mitarbeitenden der Expo.02 und ich setzen alles daran, unser Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Wir wissen, dass die Ausstellung in einem Jahr eröffnet wird. Doch wir wissen nicht, wie ihre Qualität dereinst gemessen an den ursprünglichen Zielen aussehen wird. Nach wir vor sind Bestrebungen zur Normierung im Gange. Und es besteht die Gefahr – es nützt nichts, die Augen davor zu verschliessen – am Ende einer Veranstaltung gegenüberzustehen, die als innovativ angekündigt, aber angepasst schweizerisch-korrekt umgesetzt wurde. Es gilt, kurzfristig alles daran zu setzen, damit die Expo.02 ihrem Versprechen einer offenen, kreativen, ungewöhnlichen Ausstellung treu bleibt. Ich für meinen Teil bin mir bewusst, wie gefährlich und lächerlich es wäre, heute einen Aufruf über den Sinn des Projekts zu lancieren und schliesslich mit einer Ausstellung da zu stehen, die als gross und gewagt geträumt worden war und aus der lediglich ein hübscher und teurer, organisierter Rundgang auf den schönen Schweizer Seen wurde.
Ich bitte angesichts dieser Verpflichtung zur Innovation alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Expo.02, sich auf die Expedition der vielen Ungewissheiten einzulassen. Sich nicht mit dem heute an Gewissheit Vorhandenen zufrieden zu geben. Die Autoren der Ausstellungsprojekte, die Regisseure, die Künstler der Events und die Sponsoren – wir alle müssen in einem Land, das nichts so sehr liebt wie die Kontinuität, eine Ausstellung des Ungewöhnlichen machen.
Das geplante Fest setzt die Mobilisierung der gesamten in der Schweiz wohnhaften Bevölkerung voraus. So wird sie auch ein echtes Volksfest werden. Ich weiss, dass es paradox ist, ein in seiner Problematik und seinen Konzepten anspruchsvolles Projekt zu definieren und das Volk zur Teilnahme aufzufordern. Nur ist die Expo.02 keine Veranstaltung wie jede andere. Sie bleibt eine Landesausstellung mit einem spezifischen Sinn, den jedermann neben Spektakel und Unterhaltung von ihr erwartet.
Eine Ethik des Selbst
Die Zusammenkunft und das Fest, die Lesart des Sinns und das Expo-Erlebnis richten sich in erster Linie an den Hauptakteur der Veranstaltung: das Individuum selbst. Ich weiss, dass es heute Mode ist, in Wirtschaft, Politik und Kultur das Individuum und seine Kreativität in den Vordergrund zu stellen. Das Individuum aber, an das ich denke, hat, obwohl in eine lange philosophische Geschichte eingebettet, in meinen Augen nichts Abstraktes: Es ist ein Mensch, wie ich ihm jeden Tag begegne, wie ich ihn in meiner Tätigkeit für die Expo.02 erlebe. Dieses Individuum glaubt daran, etwas bewirken zu können; es geht Risiken ein, kann mit Unsicherheit umgehen und vermag aus den aufgesplitterten Angeboten die Schwerpunkte seiner Zeit zu erkennen. Dieses Individuum kann nur handeln, wenn es mobil bleibt, neue Rollen übernimmt, sie tauscht. Und dieses Individuum weiss, dass es letztlich nichts alleine tun wird und neue Formen des Zusammenlebens entwickeln muss.
Die Expo.02 stellt gerade auf den Arteplages in Yverdon-les-Bains (Ich und das Universum) und in Biel-Bienne (Macht und Freiheit) eine doppelte Frage: «Wie sich um sich selbst kümmern?» und «Wer entscheidet über mich?»
Unser Zeitalter ist geprägt von der Aufforderung «Sich um sich selbst zu kümmern». Die Lebensregel «Sich-um-sich-selbst-kümmern» fordert den Menschen auf, sich sein Leben lang in sich selbst zu verwandeln. An modernen Ausdrücken fehlt es nicht: «Zu sich zurückfinden», «sich selbst sein», «sich selbst verwirklichen». Die Arteplage Yverdon-les-Bains bietet eine kritische Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst. «Sich in sich selbst verwandeln» heisst auch, sich fortbewegen, eine Bahn verfolgen, sich bemühen. In Yverdon-les-Bains wird das Individuum in der Entwicklung des Menschen und der Rückkehr zu sich selbst betrachtet. Wir wünschen uns an der Expo eine Begegnung des Individuums mit seinem Innersten, der Grundvoraussetzung, um den andern, der Gesellschaft, der Macht zu begegnen.
Die Expo.02 fördert durch ihre vielschichtige Lesart der Arteplages von Yverdon-les-Bains und Biel-Bienne die Möglichkeit, heute eine Ethik des Selbst zu bilden. Die Frage des Menschen mit der Frage der Macht verknüpfend (wer entscheidet über mich?), verbindet die Expo.02 das Individuum mit dem Kollektiv. Das Politische und der Mensch sehen sich so durch die Errichtung einer auf das Leben und die Gesellschaft übergreifenden Regel vereint. Zu sich und seiner einmaligen Identität zurückkehrend, findet sich der Besucher an einem Ort der Heimat und des Friedens wieder. Die Ausstellung bietet auf diese Weise eine neue Erfahrung des Individuums und der Heimat. Eine Erfahrung, die jedem und allen gemeinsam erlauben wird, neue Solidaritäten entstehen zu lassen. Diese aus der Beziehung zwischen dem «wer entscheidet über mich?» und der «Sorge um sich selbst» entstandene Zivilisation wird die Macht und das Individuum als eine Einheit von austauschbaren und niemals endgültigen Beziehungen definieren. Die Expo.02 wird eine neue Ethik des Selbst ankündigen, eine dringende und fundamentale Aufgabe, deren politische Zweckbestimmung sich klar zeigt.
Das Individuum zu Besuch
Im Zentrum der Expo.02 steht das Individuum. Das ist neu, ging es bei den früheren Ausstellungen doch darum, Werte, abstrakte Figuren und eidgenössische Themen darzustellen. Heute richtet die Expo sich an das Individuum – sowohl an das in der Schweiz wie auch an das im Ausland lebende Individuum. An alle, die die Begegnung mit der Welt suchen. Wenn die Themen der Arteplages und die Mehrzahl der geplanten Ausstellungen Fragen an das Individuum stellen, dann deshalb, weil dieses die Zweckbestimmung der Expo.02 ist.
Unsere Landesausstellung hat bekanntlich kein Zentrum und vermeidet bewusst jede Form des Zentralismus. Die Idee, dass das Individuum im Zentrum der Expo.02 stehen wird, stellt sich immer deutlicher heraus. Das Individuum in der Verkörperung des Besuchers und Akteurs, der die vielseitigen und mitunter widersprüchlichen Angebote der Expo zu einem Ganzen vereinen wird. Die Expo.02 wird ein Netz von Zusammenschlüssen mit der Schweiz und dem Ausland sein. Eine Vernetzung der Informationen der einzelnen Standorte. Der Besucher und Akteur wird die Elemente miteinander verknüpfen, persönliche Synthesen erstellen, provisorische Verbindungen und Zusammenhänge schaffen. So gesehen wird die Expo.02 durchaus ein vielseitiges und einzigartiges Zentrum haben, das jedoch nicht den umfassenden Sinn der Expo enthalten, sondern erst durch den persönlichen Gebrauch einen Sinn erhalten wird.
Das grundlegend zeitgemässe Konzept der Dekonstruktion und Zersplitterung eignet sich meiner Ansicht nach hervorragend, um unsere Welt wiederzugeben. Die Expo wird geprägt sein von einer Vielfalt von Ausstellungen und Veranstaltungen, die verschiedene Sichtweisen einer Problematik zeigen. Die Ausstellungen sollen sich ergänzen, gegenseitig bereichern oder auch widersprechen. Diese Vielseitigkeit ist eine der Qualitäten und Besonderheiten dieser Expo.02. Wenn die Expo sich an alle richten will, dann weder im Sinne einer Angleichung der Angebote, noch indem ein gemeinsamer Nenner in Kultur und Wissen gesucht wird. Die Expo richtet sich an alle, indem sie ein Netz von möglichen Hypothesen, Antworten, Fragen und Anregungen zu ausgewählten Themen bietet. Jeder Besucher und jede Besucherin wird aus der Vielfalt an Angeboten eine eigene Auswahl treffen müssen.
Schluss
Die Expo wird dem Individuum meines Erachtens länger in Erinnerung bleiben, als sie die Örtlichkeiten prägen wird. Ich möchte, dass man von der Landesausstellung wie von jeder anderen Grossveranstaltung dereinst wird sagen können: «Ich erinnere mich.» Die Expo.02 will kein neues Schweizermonument für die Schweiz errichten. Einzig die Erinnerung des Einzelnen wird der Veranstaltung eine Dimension des Ewigen zu geben vermögen. In unserem Jahrhundert hat die Figur des Zeugen neue Bedeutung erhalten. Durch seine direkte Teilnahme am Zeitgeschehen, das er durch seine Erzählung weitergibt, wird der Zeuge zu einem wichtigen Akteur der Geschichtsbildung. Das Individuum, dem wir an der Expo.02 begegnen werden, wird Zeuge einer kulturellen und politischen Veranstaltung sein, dessen Erbe seine Erzählung der Veranstaltung sein wird.
15.05.2001: Nelly Wenger (Aus dem Französischen von Claudine Kallenberger)